Erna Dauner

Die Frau der 10.000 selbstgestrickten Socken

Die oberste Schublade des Sideboards ist immer gut gefüllt mit Wolle, die Stricknadeln sind griffbereit, ebenso wie der Socken, an dem sie gerade arbeitet. Daneben liegen in der Schublade die fertigen Paare: zusammengezogen, bunt, kuschelig und ordentlich nebeneinander gelegt. Sie warten förmlich darauf von Erna Dauner großzügig und mit einem Lächeln verschenkt zu werden. Die fast 90jährige strickt seit Jahrzehnten Socken. Wie viele es inzwischen sind, daran hat sie noch nie einen Gedanken verschwendet. Ihre Konzentration braucht sie zum Zählen der Reihen und Maschen, schließlich sollen die Socken der Paare gleich sein.

„Meine Mutter war wenig begabt was Handarbeiten betrifft. Aber ich war als kleines Mädchen immer bei unserer Vermieterin und die hat mir das Häkeln und Stricken beigebracht", erzählt sie. Mit drei Jahren hatte sie ihren ersten „Wollkontakt", sie lernte zunächst Häkeln, dann Stricken. „Es hat mir als Kind schon Freude bereitet, aus einem Wollfaden etwas zu machen. Ob das Topflappen für meine Mutter waren

 

oder einen Schal für meinen Vater." Im Moment strickt sie an einem Paar Socken für den Mann ihrer ältesten Enkelin. „Der hat im Dezember Geburtstag und er trägt meine Socken so gerne." Vorsichtig hochgerechnet dürfte das wohl ein Paar von knapp 10.000 sein, auf die sie in den letzten 45 Jahren ohne weiteres kommt. Dankbare Abnehmer haben sich bis zum heutigen Tag immer gefunden. Familie, Freunde, Nachbarn, Bekannte und auch so manch anderer freut sich an den selbstgestrickten Socken. „Mein Enkel und seine Frau sind große Tierliebhaber und Tierschützer. Sie haben viele Jahre lang beim Weihnachtsbasar des Heidenheimer Tierheims geholfen und ich habe sie unterstützt, indem ich Socken für den Basar gestrickt habe. Ich hatte das Jahr über etwas zu tun und das Tierheim kann jeden Euro gebrauchen", freut sie sich und lässt durchblicken, dass es auch den einen oder anderen gegeben hat, der jedes Jahr wegen ihrer Socken kam.

Während sie heute aus Vergnügen und zum Zeitvertreib strickt, war es auch schon

 

mal anders. 1929 in Köln geboren, kam sie mit ihrer Familie nach dem Krieg zunächst ins Bayerische, dann zogen sie nach Giengen an der Brenz. Die Zeit war entbehrungsreich, die Freude am Leben ließ sie sich dennoch nicht nehmen – stricken inklusive. „Es gab keine Kleidung und auch keine Wolle zu kaufen; wir hatten dafür sowieso kein Geld. Also musste man erfinderisch sein. Meine Freundin und ich bezirzten den Apotheker, damit er uns Mullbinden gibt. Die haben wir dann mit der Rasierklinge in feine Streifen geschnitten und uns daraus weiße Pullover gestrickt. Wir sahen darin richtig gut aus, wenn wir zum Tanzen gingen", erzählt sie und lacht verschmitzt, so als ob es erst gestern gewesen wäre. „Lange haben diese Pullover nicht gehalten. Nach einigen Wäschen lösten sie sich auf. Dann haben wir uns wieder neue gestrickt oder uns etwas anderes einfallen lassen." Ihr Geschick in Sachen Handarbeit schätzten viele, auch ihr zukünftiger Mann. „Er trug, wie die meisten anderen jungen Männer damals, kurze Lederhosen. Ich strickte ihm aus feinem weißem Garn Kniestrümpfe dazu. Das war viel Arbeit, aber es hat sich gelohnt – er hat damit sehr gut ausgesehen." Auch wenn das Geld manchmal mehr sein hätte dürfen, Erna Dauner schaffte es immer, ihrem hohen Anspruch in allem Gerecht zu werden. Nach der Hochzeit kamen die vier Kinder zur Welt, sie organisierte den Haushalt, lernte Nähen, häkelte, strickte, kochte, backte und sorgte dafür, dass zuhause alles in geregelten Bahnen verlief. Als es ging, arbeitete sie stundenweise in einem Seniorenwohnheim. Langeweile? Das Wort ist ihr bekannt, nicht aber wie es sich anfühlt. „Langweilig war es mir nie!"

Nach den Kindern kamen die Enkel, dann die Urenkel. Mit 70 Jahren saß sie noch an der Nähmaschine und nähte für sich Kleider, Blusen und Röcke. Mit ihrem Mann zog sie dann in eine kleinere Wohnung, als dieser starb organisierte sie ihr Leben neu. Sie kochte für die jüngsten Enkel, die nach der Schule zu ihr zum Essen kamen, pflegte den Kontakt zu ihrer jüngeren Schwester, entdeckte ihre Vorliebe für historische Romane und widmete sich intensiv dem Sockenstricken. Der Rollator, den sie seit ihrem Oberschenkelhalsbruch vor vielen Jahren hat, erhält ihr bis heute ihre Mobilität im Alltag; zudem hat er noch einen weiteren, entscheidenden Vorteil:

 

„In dem kleinen Körbchen vorne habe ich alles dabei, was ich so brauche", lässt sie wissen. Das kann die Strickweste sein, das Taschentuch, die Flasche Wasser oder das Strickzeug. Erst vor einigen Wochen hat sie ihre Wohnung aufgegeben und ist ins Pflegeheim gezogen. Bei einem Sturz im Oktober hat sie sich den Arm gebrochen und konnte deshalb mit dem Rollator nicht mehr gehen. Das hinzunehmen kam ihr für keinen Augenblick in den Sinn. Inzwischen wieder ohne Gips hat sie den Rollator und ihr Leben wie eh und je fest im Griff.

Das Stricken ist noch etwas mühsam, bis sie zu ihrer alten Form zurückfindet, wird es wohl noch etwas dauern. „Mein Physiotherapeut ermahnt mich, dass ich nicht übertreibe und zu viel mache. Ich halte mich daran – so gut ich eben kann", erzählt sie voller Charme und mit einem Augenzwinkern. Die Entscheidung die Wohnung aufzugeben und in ein Pflegheim zu ziehen, war für sie nicht schwer. Alleine ging es nicht mehr und ihren Kindern wollte sie auf gar keinen Fall zur Last fallen. Zudem hat sie schnell die Vorzüge dieser Gemeinschaft schätzen gelernt. „Ich habe ein schönes Zimmer, wenn ich Hilfe brauche, ist immer jemand da, die Friseurin ist im Haus und ich habe hier schon viele getroffen, die ich von früher kenne."

Was sie etwas vermisst – auch wenn sie versucht es sich nicht anmerken zu lassen – ist ihre Küche. Wie es war für die Kinder oder die Enkel Linsensuppe oder Sauerbraten zu kochen oder sie mit Hefezopf, Marmor- oder Apfelkuchen zu verwöhnen, daran erinnert sie sich gerne. Wehmut lässt sie nicht aufkommen. „Als einer meiner Enkel fragte, wer ihm denn jetzt Linsensuppe kochen soll, sagte ich ihm: 'Das kannst Du auch selber machen'." Selber machen, das ist ihre Devise. Wann und wo immer es geht. Dass sie nächstes Jahr im Mai mit ihrer Familie und allen, die ihr lieb und wichtig sind, ihren 90. Geburtstag feiert, steht für sie heute schon fest. Was sie zu Weihnachten und zum Geburtstag auf jeden Fall bekommt, steht ebenfalls fest: Sockenwolle.